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150 Schüler treffen Holocaustüberlebende
Von Carina Rieger, Bildungsbeauftragte der ICEJ
Am 20. Oktober besuchte die Zeitzeugin Ruth Michel in Begleitung von Mitarbeitern der Internationalen Christlichen Botschaft Jerusalem – Deutscher Zweig e.V. (ICEJ) die Realschule Pfalzgrafenweiler. Rund 150 Schüler der Klassen 8 bis 10 lauschten gebannt, als die 94-Jährige von ihren Erfahrungen während des Holocaust berichtete. „Von dem Erlebten zu sprechen, ist mein persönlicher Kampf gegen Antisemitismus“, begann sie zu erzählen.
Ruth Michels Geschichte 1935 zog Ruth mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester ins polnische Dorf Mykulytschyn (heute Ukraine). Neben den Schikanen der Gestapo-Männer und ihrer ukrainischen Handlanger, der Last der Verantwortung für die Familie sowie Angst, Krankheit, Hunger und Kälte musste sie miterleben, wie die Gestapo am 9. Dezember 1941 alle 205 Juden in Mykulytschyn verhaftete. Sie wurden in enge Gefängniszellen gezwängt und schließlich an einem frisch ausgehobenen Massengrab per Genickschuss ermordet – darunter Ruths Vater. Versteckt im Wald konnte Ruth mit Mutter und Schwester entkommen.
Bleibender Eindruck „Ich hatte das Gefühl, dass der Raum während des Vortrags die ganze Zeit unter Spannung stand, weil Frau Michel so gut erzählt hat. Ich bin echt froh, noch eine Zeitzeugin kennenglernt zu haben“, berichtete eine Schülerin im Anschluss an die Veranstaltung. Auch der Schuldirektor Marco Held zeigte sich sichtlich bewegt. „Ich möchte Ihnen versichern, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um mich in meinem Amt konsequent und gegen jede Form von Antisemitismus einzusetzen“, versicherte er an die Zeitzeugin und seine Schülerschaft gewandt. Auszüge aus der folgenden, offenen Fragerunde sowie weitere Reaktionen von Schülern finden Sie auf der nächsten Seite.
Ermutigt zu handeln Im Vorfeld des Schulbesuchs hatte ICEJ-Mitarbeiterin Carina Rieger vier Unterrichtsstunden in den 9. und 10. Klassen zu den Themen „Jüdisches Leben in Deutschland“ und „Antisemitismus heute“ gestaltet.Darin zeigte sie den Schülern auf, wie sich jüdisches Leben vor Ort entwickelt hat, und sprach über die aktuelle Situation der Juden in Deutschland. „Ich war sehr überrascht, dass Antisemitismus heute immer noch so stark ist und wir davon nicht viel mitbekommen“, meldete eine Neuntklässlerin zurück. Außerdem erfuhren die Schüler, welche Ausprägungen Judenhass in unseren Tagen angenommen hat und wie sie ganz praktisch in ihrem Umfeld dagegen vorgehen können. „Es war toll zu hören, was wir machen können, damit sich Juden in Deutschland besser fühlen“, bedankte sich ein Schüler.
Uns bleiben nur noch wenige Jahre, um der nächsten Generation die Begegnung mit Holocaustüberlebenden zu ermöglichen und die Leben junger Menschen nachhaltig zu prägen. Gerne kommen wir für Veranstaltungen mit Zeitzeugen an weitere Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen oder organisieren Online-Termine. Wenden Sie sich hierfür gerne an: carina.rieger@icej.de
Die Internationale Christliche Botschaft Jerusalem (ICEJ, gegründet 1980) stellt sich seit 40 Jahren gegen Antisemitismus und Antiisraelismus. Sie hat eine Partnerschaft mit der Holocaustgedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, unterstützt sozial Benachteiligte sowie Neueinwanderer und Minderheiten (Araber, Drusen und Beduinen), fördert Projekte der Koexistenz zwischen Juden und Arabern und betreibt in Haifa ein Heim für bedürftige Holocaustüberlebende. Die ICEJ ist ein überkonfessionelles Glaubenswerk mit Zweigstellen in über 90 Ländern und Unterstützern in mehr als 160 Ländern weltweit.
Ruth Michel im Gespräch mit Lehrer- und Schülerschaft
Wie reagieren die Menschen in Ihrem Umfeld auf Ihre Geschichte?
Es spricht mich niemand darauf an. Keiner sagt: „Erzähl‘ doch mal.“ Nichts. Ist es Feigheit? Desinteresse? Ich weiß es nicht.
Halten Sie es für denkbar, dass deutsche Bürger von den Verbrechen der Nazis während des Holocaust nichts mitbekommen haben?
Die Deutschen haben nicht gefragt: „Wo sind eigentlich meine Nachbarn geblieben?“ Niemand hat sich darum gekümmert. Stattdessen hat man ihre Güter geklaut und ihre Wohnungen besetzt. Jeder hat es gewusst.
Können Sie sich mittlerweile gegenüber der deutschen Gesellschaft öffnen und über alles sprechen?
Ich habe gelernt, immer Vorsicht walten zu lassen. Nur bei Schulvorträgen oder Veranstaltungen wie dem Marsch des Lebens in Tübingen spreche ich offen.
Studien zufolge hegen heutzutage rund 25% der deutschen Bevölkerung klare antisemitischen Ressentiments. Was können wir als Gesellschaft tun, um dem entgegenzuwirken?
Antisemitismus war hierzulande nie versiegt, sondern kann immer wieder geweckt werden. Allein hat man wenig Macht, dagegen vorzugehen. Wichtig ist, jeden Vorfall zur Anzeige zu bringen.
Was erwarten Sie von Menschen in unserem Land, die Verantwortung für die nächste Generation haben?
Dass Sie Leute wie mich einladen und die Thematik in Ihrem Schulunterricht platzieren.
Weitere Schülerstimmen zum Zeitzeugenbesuch
„Der Besuch war sehr interessant und eindrücklich. Es ist etwas anderes, wenn man nur darüber liest, oder jemand davon erzählt, der das wirklich erlebt hat.“
„Mir ging das Thema näher als ich dachte. Die Tatsache, dass wir alle nicht ganz genau in Frau Michel hineinfühlen können, da wir es nicht so erlebt haben wie sie, macht mich traurig und ich habe jetzt das Gefühl, mich dafür mehr zu interessieren.“
„Ich kann jetzt besser verstehen, was damals Schlimmes und Trauriges passiert ist. Danke Frau Michel, es war sehr wichtig für mich!“
„Schockiert haben mich vor allem ihre letzten Worte: ‚Wenn heute wieder ein Hitler kommen würde, würde Deutschland gleich reagieren wie damals.‘ Wir wurden dadurch gewarnt, gegen Antisemitismus aufzustehen und zu handeln.“
„Ich bin ihr an den Lippen gehangen und habe vieles gelernt. Vielen Dank für dieses Erlebnis! Ich werde es nie vergessen.“